Wohllebens Waldführer

Tiere & Pflanzen bestimmen – das Ökosystem entdecken
Peter Wohlleben, 2. Auflage, 2020, Verlag Eugen Ulmer, ISBN 978-3-8186-0704-3, €15,00

Den Name des Autors dürften die meisten Hobbygärtner, Freizeitbotaniker und Naturfreunde inzwischen schon einmal gehört haben. Typisch ist angeblich seine unkonventionelle frische Art, biologische Sachzusammenhänge für Laien nicht nur verständlich, sondern auch unterhaltsam darzustellen. Ich sage ‚angeblich‘, weil dieses das erste Werk ist, das ich von Ihm lese. Nachdem ich Passagen aus ‚Das geheime Leben der Bäume‘ gelesen habe, war ich eher nicht so begeistert.

Der Titel ‚Das geheime Netzwerk der Natur‘ macht mich auch skeptisch. Das Wort ‚geheim‘ in Buchtiteln, im Zusammenhang mit biologischen Prozessen, wirkt auf mich inzwischen abschreckend. Ich habe direkt den Verdacht, dass da etwas seit langem bekanntes als absolute Neuentdeckung verkauft werden soll.

Dann fällt mir aber wieder ein, wie ich zur Botanik kam. In den 1990ern veröffentlichte David Attenborough eine Mini-Serie namens ‚Das geheime Leben der Pflanzen‘ (The Private Life of Plants, BBC, 1995). Die zahlreichen Zeitrafferaufnahmen keimender Baumsämlinge, sich öffnender Blüten, wachsender Wurzelspitzen, Entstehen und Vergehen von Pilzfruchtkörpern haben mich derart in den Bann gezogen, dass ich sogar meinen Berufsweg darauf ausgerichtet habe. Natürlich stehen dabei die gewaltigen Bilder im Vordergrund, wobei aber die Sachinformation – auch nach meinen heutigen Maßstäben – von hoher Qualität ist.

Als Agrar-Ingenieur sind mir Formulierungen wie: „der Pilz liefert dem Baum Wasser, dafür versorgt der Baum den Pilz mit Nährstoffen“ sehr suspekt. Man könnte annehmen, dass Baum und Pilz einen Vertrag abschließen, der bei Bedarf gekündigt werden kann. In der Realität sind die verschiedenen Arten von Symbiosen biochemische Prozesse, die mit geben und nehmen im aktiven Sinne nichts zu tun haben. Weder Baum noch Pilz haben einen aktiven Einfluss auf das Zusammenleben. Bei dem Titel „Das Seelenleben der Tiere“ bin ich ganz raus. Hier werden alle Klischees bedient, die zu einer menschgemachten Naturromatik passen, die mit evidenzbasierten Erkenntnissen nun wirklich nichts mehr zu tun haben.

Aber zurück zu ‚Wohllebens Waldführer‘.
Das Buch enthält netto 246 Seiten (ohne ‚Der Autor‘ und ‚Register‘). Es werden Arten bzw. Sorten von 14 Lebensformen (Säugetiere, Vögel, Amphibien und Reptilien, Insekten, Spinnentiere, Schnecken, …, Gräser, Moose, Flechten) vorgestellt.
Es gibt keinen Bestimmungsschlüssel, obwohl der Untertitel das verspricht. Es handelt sich mehr um eine oberflächliche Auswahl der wichtigsten (?) Arten. Eine repräsentative Auswahl der 14 Lebensform im Detail darzustellen, würde mehrere Bände füllen. Vielmehr ist es ein Lesebuch, das in die Vielfalt des Waldes einführen soll.

Wohlleben stellt nur zwei von dreiundzwanzig in Deutschland vorkommenden Waldameisen vor. Das ist leider etwas dünn. Er hätte zumindest jeweils zwei Arten darstellen können, die in Laub- und Nadelwäldern vorkommen. So bleibt die Frage, welche Ameisenart der Leser gerade in einem Laubwald herumkrabbeln sieht unbeantwortet. Einleitungen mit grundsätzlichen Informationen zu den einzelnen Lebensformen wären auch eine schöne Ergänzung gewesen. Wieviele Insekten-, Vogel-, Baumarten gibt es überhaupt? Was sind die wesentlichen Unterschiede?

Die obere Hälfte jeder Seite enthält ein großes Bild der Art und oft ein zweites kleineres Bild, jeweils mit erläuternder Unterschrift. Die Bilder sind so groß, dass Details deutlich erkennbar sind. Die Qualität, die Fokussierung und Belichtung sind super, was für Naturbücher leider nicht mehr selbstverständlich ist.
Die untere Seitenhälfte enthält die Beschreibung der Art. Der Text ist wenig wissenschaftlich, enthält aber die wichtigsten Eigenschaften. Ich nenne das ballastfreie Information. Für ein Buch, dass sich an den interessierten Laien wendet ist das absolut legitim. Der lockere Plauderton erlaubt ein zügiges lesen. Die Lektüre schreckt nicht durch langatmige Erklärungen ab – anders als diese Rezension 😉

Einige Formulierungen finde ich allerdings bedenklich. Bei der Gewöhnlichen Eichengallwespe schreibt Wohlleben, dass die kugeligen Gallen an der Blattunterseite des Eichenblatts für den Baum unschädlich seien. Wenn man sich klar macht, dass jede Zellteilung in einem Pflanzenorganismus Energieaufwand bedeutet, welche Energieverschwendung bedeutet das für den Baum, wenn er Gebilde erzeugen muss, die das Mehrfache an Biomasse ausmachen, als das Kraftwerk, dass sie produziert: in diesem Fall das Blatt, an dem die Galle wächst.
Pflanzen produzieren – im Gegensatz zu Menschen, Tieren und Pilzen – ihre Nährstoffe selbst. Das funktioniert nur mit einem hochsensiblen Produktionssystem, bestehend aus komplex ineinandergreifenden Zyklen mit dem Ziel einer positiven Energiebilanz. Jede Störung des Systems ist für eine Pflanze nicht unbedingt tödlich, behindert sie aber im Erreichen Ihres Ziels, nämlich der Fortpflanzung.
Das ist das primäre Ziel der Natur: die Fortpflanzung zur Erhaltung der Art. Eichengallwespe und Eiche haben also dasselbe Ziel. Die Eichengallwespe nimmt sich einfach was sie braucht, indem Sie den Baum parasitiert. Dass das für die Eiche unschädlich ist, ist falsch.

Im Kapitel ‚Hinter den Kulissen‘ wird es für meinen Geschmack zu esoterisch, wenn z. B. Bäume in Todesangst ihr Wuchsverhalten ändern und Experten die Ursachen des Waldsterbens vertuschen. Das Peter Wohlleben als Ex-Forstbeamter an der Forstwirtschaft kein gutes Haar lässt, ist aber zu erwarten.

Fazit:
Absolute Kaufempfehlung für jeden, der informiert in den Wald gehen und das Leben dort entdecken und verstehen möchte. Die Informationen sind zwar nicht allumfassend, aber zu den beschriebenen Arten ausreichend fundiert, obwohl teils ideologisiert.
Im Allgemeinen bin ich eher für wertfreie und trotzdem spannende Fachinformation á la David Attenborrough, aber sicher hat auch die Sichtweise von Peter Wohlleben ihre Berechtigung. Zumindest wird dieses Buch einen prominenten Platz in meiner Bibliothek bekommen, um stets griffbereit zu sein.



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